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Beitrag vom 30.06.2021
RIAS-Zahlen für 2020: Mehr bekannte antisemitische Vorfälle während der Pandemie
AVIVA-Redaktion
Durch zivilgesellschaftliche Meldestellen für antisemitische Vorfälle wurden im vergangenen Jahr 1.909 antisemitische Vorfälle bekannt. Dies geht aus dem am 28.06.2021 veröffentlichten Bericht "Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2020" des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. (Bundesverband RIAS) hervor. Mit einem am 29.06.2021 veröffentlichten Leitfaden zur Verfolgung antisemitischer Straftaten in Berlin soll den Mitarbeitenden der Polizei Berlin sowie der Amts- und Staatsanwaltschaft in Berlin eine praxisnahe Handlungsempfehlung gegeben werden.
Drei der vier landesweiten Meldestellen, die sich im vergangenen Jahr an der bundesweiten Dokumentation beteiligten, registrierten mehr antisemitische Vorfälle als im Jahr zuvor: 30% mehr in Bayern, 13% in Berlin, 3% in Brandenburg. Lediglich in Schleswig-Holstein konnte ein leichter Rückgang um 5% verzeichnet werden. Erstmals veröffentlichte der Bundesverband RIAS zudem Zahlen für das restliche Bundesgebiet, wo 472 antisemitische Vorfälle bekannt wurden.
Insgesamt waren 677 Personen und 679-mal Institutionen direkt von den dem Bundesverband RIAS bekannt gewordenen antisemitischen Vorfällen betroffen. Zwar kam es 2020, wohl auch pandemiebedingt, vielerorts zu weniger Angriffen und Bedrohungen als 2019, doch wurde auch in diesem Jahr ein Fall extremer Gewalt dokumentiert: Am 4. Oktober griff ein Mann in Hamburg-Eimsbüttel vor der Synagoge einen 26-jährigen Studenten mit einem Spaten an.
Mehr als ein Viertel aller dokumentierten Vorfälle (489) hatte einen direkten Bezug zur Coronapandemie. Dabei handelte es sich in 284 Fällen um antisemitische Inhalte, die auf Versammlungen gegen die Coronamaßnahmen in Reden, auf Schildern oder auf der Kleidung verbreitet wurden. In ganz Deutschland prägten Schoa bagatellisierende Vergleiche und Selbstviktimisierungen die öffentlichen Versammlungen, wie etwa im Dezember in Darmstadt, als ein Redner in Bezug auf die NS-Zeit sagte: "In der Zeit damals hat man die Juden verfolgt – jetzt verfolgt man die Querdenker."
Gleichzeitig fanden antisemitische Verschwörungsmythen bezüglich der Herkunft der Coronapandemie und der Maßnahmen zu ihrer Eindämmung häufig auch ihren Weg in den Alltag von Jüdinnen_Juden, wie im Mai in Berlin, als ein Mann zwei erkennbar jüdischen Spaziergänger_innen zurief: "Schämt ihr euch nicht, was ihr veranstaltet habt, ihr Juden?" Aufgrund der hohen Virulenz von Verschwörungsmythen im Kontext der Coronapandemie verstanden die Betroffenen die Aussage als Vorwurf, sie seien an der Pandemie schuld.
Im Vergleich dazu registrierten die Meldestellen im Jahr 2020 einen geringeren Anteil des israelbezogenen Antisemitismus. Dies scheint jedoch angesichts der jüngsten offen antisemitischen Demonstrationen sowie der Angriffe auf und Bedrohungen von jüdischen Personen und Institutionen im Mai 2021 lediglich eine Momentaufnahme gewesen zu sein.
Die politisch-weltanschaulichen Spektren, denen 2020 die meisten bekannt gewordenen antisemitischen Vorfälle zugeordnet wurden, waren Rechtsextremismus/ Rechtspopulismus (479) sowie das verschwörungsideologische Milieu (247), bei welchem während der Pandemie überall große Anstiege beobachtet werden konnten. Wie schon im Vorjahr konnten die Meldestellen den politischen Hintergrund der Vorfälle in etwa der Hälfte der Fälle nicht eindeutig bestimmen.
Stimmen zur Veröffentlichung des Berichts "Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2020":
Benjamin Steinitz, geschäftsführender Vorstand des Bundesverbands RIAS e.V.:
"Verschwörungsideologisches Milieu während der Coronapandemie, antiisraelische Aktivist_innen während Eskalationen im israelisch-palästinensischen Konflikt, dazu die konstante Bedrohung durch Rechtsextremismus: Die Gefahr für Jüdinnen_Juden kommt von vielen Seiten. Antisemitismus zeigt sich in Deutschland nach wie vor facettenreich und auch offene Formen sind zunehmend normalisiert. Egal in welcher Form muß er entschieden geächtet und zurückgewiesen werden."
Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Vorstandsvorsitzender der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland:
"Beschimpfungen in der Schule oder beim Sport, Hassnachrichten übers Internet, Brandanschläge auf Synagogen –auch das gehört zur Lebensrealität jüdischer Menschen 1.700 Jahre nach der Ersterwähnung jüdischer Gemeinden auf dem Boden der heutigen Bundesrepublik. Leider ist dies auch für die Nachkriegsgeschichte dieses Landes nichts Neues. Doch während wir Anfeindungen aus allen Richtungen erleben, stellen wir gerade beim israelbezogenen Antisemitismus ein lautes Schweigen aus der Mitte der Gesellschaft fest."
Dr. Annette Seidel-Arpacı, Vorstandsmitglied, Bundesverband RIAS:
"Während eines Jahres, in dem sich das gesellschaftliche Leben weitgehend ´nach innen´ verlegen musste, haben sich dennoch massenhaft antisemitische Vorfälle im öffentlichen Raum zugetragen. Bei den sogenannten Coronaprotesten zeigte sich sehr bald, dass Antisemitismus das stärkste verbindende Element zwischen den unterschiedlichen Milieus war. Dies hat sich auch abseits der Proteste bei Anfeindungen gegen jüdische Personen gezeigt."
Kim Robin Stoller, Vorstandsvorsitzende, Internationales Institut für Bildung, Sozial- und Antisemitismusforschung e. V. (IIBSA):
"Die Gefahr einer massenhaften Mobilisierung des Antisemitismus aus verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Milieus nimmt zu. Dies zeigt die gefährliche Dynamik des Antisemitismus. Zum verstärkten Antisemitismus aus dem rechtsextremen Milieu gesellte sich im vergangenen Jahr, wie der Bericht zeigt, die verschwörungsideologische Mobilisierung im Kontext der Pandemie. In diesem Jahr zeigen die zahlreichen antisemitischen Vorfälle im Kontext des Krieges durch die Terrororganisation Hamas die antisemitische Mobilisierungsfähigkeit arabischer, türkischer und palästinensischer nationalistischer und islamistischer Kräfte."
Dr. Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus:
"Die Schaffung eines bundesweiten Meldesystems zur Erfassung antisemitischer Vorfälle insbesondere auch von Fällen unterhalb der Strafbarkeitsschwelle, ist mir ein zentrales Anliegen, das ich sehr unterstütze. Es ist erfreulich, dass 2020 bereits vier landesweite Meldestellen im RIAS Bundesverband aktiv waren und es inzwischen sogar sieben sind. Denn mit der Nutzung einheitlicher Kategorien wird eine Vergleichbarkeit bundesweiter Daten geschaffen. Die so gewonnenen Erkenntnisse können das polizeiliche Lagebild ergänzen und helfen, ein möglichst realitätsnahes Bild der Entwicklung von Antisemitismus in Deutschland zu erhalten, um möglichst passgenaue Gegenstrategien zu entwickeln."
Der Bericht "Antisemitische Vorfälle in Deutschland 2020" kann eingesehen werden unter: report-antisemitism.de
Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS Berlin) wurde im Januar 2015 durch den Verein für Demokratische Kultur in Berlin (VDK) e.V. gegründet. Sie wird gefördert durch das Berliner Landesprogramm gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus der Senatsverwaltung für Justiz, Verbraucherschutz und Anti-Diskriminierung und die Amadeu Antonio Stiftung. Ziel von RIAS Berlin ist eine zivilgesellschaftliche Erfassung antisemitischer Vorfälle und die Vermittlung von Unterstützungsangeboten an die Betroffenen. RIAS Berlin ist Mitglied in der Bundesarbeitsgemeinschaft des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V.
Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Bundesverband RIAS) e.V. wurde im Oktober 2018 gegründet. Er verfolgt das Ziel, bundesweit eine einheitliche zivilgesellschaftliche Erfassung und Dokumentation antisemitischer Vorfälle zu gewährleisten und die Interessen von Trägern und Projekten regionaler Meldestellen für antisemitische Vorfälle gegenüber der Öffentlichkeit, Politik und Verwaltung zu vertreten.
Mehr Infos und Kontakt: www.report-antisemitism.de und report-antisemitism.de/rias-berlin
Statement des Projektleiters von RIAS Berlin zur Veröffentlichung des Leitfadens zur Verfolgung antisemitischer Straftaten in Berlin
Der Antisemitismusbeauftragte der Polizei Berlin, Wolfram Pemp, und die Antisemitismusbeauftragte der Generalstaatsanwaltschaft Berlin, Claudia Vanoni, haben am 29.06.2021 ihren gemeinsamen Leitfaden zur Verfolgung antisemitischer Straftaten in Berlin veröffentlicht. Mit dem Leitfaden soll den Mitarbeitenden der Polizei Berlin sowie der Amts- und Staatsanwaltschaft in Berlin eine praxisnahe Handlungsempfehlung für die Verfolgung antisemitischer Straftaten gegeben werden. Gleichzeitig kann der Leitfaden Strafverfolgungsbehörden dabei helfen antisemitische Straftaten und das gesamte Phänomen besser wahrzunehmen. Grundlage für die Orientierung zur Bestimmung antisemitischer Straftaten bildet dabei die IHRA-Definition von Antisemitismus.
Dazu erklärt Benjamin Steinitz, Projektleiter der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin:
"Der Leitfaden kann zukünftig ein wichtiges Instrument für Polizist_innen und Staatsanwält_innen sein, damit diese Antisemitismus besser erkennen und antisemitische Straftaten schließlich auch als solche konsequent würdigen und verfolgen. Ich begrüße diesen ersten Schritt! Die IHRA-Definition von Antisemitism, die in dem Leitfaden als Orientierung aufgeführt wird, bildet dafür eine gute Grundlage. Am wichtigsten ist aber: Der Perspektive von Betroffenen antisemitischer Taten wird darin eine zentrale Rolle zugewiesen. Wir wünschen uns, dass insbesondere dieser Punkt konsequent in der täglichen Arbeit umgesetzt wird.
Durch unser Partnerprojekt Regishut - Sensibilisierung für Antisemitismus in der Polizei, das aktuell Module entwickelt, um Polizist_innen für Antisemitismus zu sensibilisieren, besteht eine exzellente Möglichkeit, den Leitfaden innerhalb der Behörden zu vermitteln und eine zu verbreiten."
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Antisemitische Vorfälle auf hohem Niveau – RIAS Berlin stellt Bericht für 2020 vor
Zum zweiten Mal seit 2018 sind der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin über eintausend antisemitische Vorfälle bekannt geworden: Insgesamt 1.004 Fälle dokumentierte RIAS Berlin im Jahr 2020. Der am 19. April 2021 in Berlin vorgestellte Bericht "Antisemitische Vorfälle in Berlin 2020" verzeichnet somit eine Zunahme von 13 % gegenüber 2019.
Jahresbericht 2019 des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. (RIAS e.V.): Dokumentiert wurden 1.253 antisemitische Vorfälle in vier Bundesländern
Die vier 2019 aktiven zivilgesellschaftlichen Meldestellen für antisemitische Vorfälle, RIAS Bayern, RIAS Berlin, RIAS Brandenburg und LIDA Schleswig-Holstein, zeichnen ein präzises Bild über die Verbreitung von Antisemitismus im Alltag. Das ist das Ergebnis des am 06.05.2020 veröffentlichten ersten Berichts des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Bundesverband RIAS) e.V. (2020)
Gemeinsame Pressemitteilung zur Urteilsverkündung im Halle-Prozess am 21.12.2020
Der Verband der Opferberatungsstellen, der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Bundesverband RIAS) e.V., OFEK e.V. – Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung sowie die prozessbegleitenden Dokumentations- und Rechercheplattformen NSU Watch, Zentrum für demokratischer Widerstand e.V. – democ.de und Belltower News stellen zum mörderischen antisemitisch, rassistisch und misogyn motivierten Attentats in Halle (Saale) an Yom Kippur 2019 die Forderungen der Überlebenden des Attentats in den Mittelpunkt.
Quelle: Pressemitteilungen der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin (RIAS Berlin) vom 28.06.2021 und 29.06.2021